Die Handlung des Krimis ist nicht wichtig, gesehen hat ihn wohl kaum jemand der Protestierenden. Das Reizwort heißt Inzest - Inzest in einer alevitischen Familie. Die alevitische Glaubensgemeinschaft reicht eine Klage wegen Volksverhetzung ein, in Berlin und Köln demonstrieren Tausende gegen die ARD, mit dem Grundgesetz in der Hand, aber auch mit Plakaten, auf den "Unsere Geduld ist am Ende" oder "Es reicht" steht. Verlangt wird offizielle Entschuldigung der für die Ausstrahlung des Tatorts Verantwortlichen.
Die Wut der Aleviten ist nachvollziehbar, wenn man die Bedeutung des Inzestvorwurfs in der Geschichte dieser Glaubensrichtung kennt und darüber hinaus die gespannten Beziehungen zwischen Sunniten und Aleviten in der Türkei berücksichtigt. Seit Jahrhunderten haben die Gleichberechtigung in der Ausübung des Glaubens und die gemeinsame Teilnahme von Männern, Frauen und Kindern an religiösen Ritualen den Aleviten den Vorwurf des "Inzests" eingetragen, oft verbunden mit blutiger Verfolgung. Das Stigma des Inzests klebt an den Aleviten wie das der Brunnenvergiftung an den Juden. Ein Tatort mit einem brunnenvergiftenden Juden der nebenbei christliche Kinder abschlachtet am Sonntagabend um 20:15 im Ersten? Undenkbar. Zu Recht.
Der Vergleich, der auf den ersten Blick überzeugend erscheinen mag, ist weit hergeholt.
1. Was ist Inzest? Sexuelle Handlungen zwischen (nahen) Verwandten. Ja, aber es gibt auch andere Auslegungen, wie bei Spon deutlich wird: "Nach Ansicht einiger Vertreter der Gemeinschaft bestätige der Inhalt des "Tatorts" eine alte Unterstellung seitens der sunnitischen Muslime, die Aleviten betrieben in ihren Gemeinden Inzest, indem sie religiöse Rituale gemeinsam mit Frauen und Kindern exerzierten. Die Vorwürfe stammten aus der osmanischen Zeit und hätten die Unterdrückung des Alevitentums zum Ziel gehabt."
Der Vorwurf des Inzests gegen die Aleviten bezieht sich also nicht auf sexuelle Verhältnisse zwischen Verwandten oder die sexuelle Misshandlung von Kindern, sondern auf das gemeinsam vollzogene religiöse Ritual.
2. Wie unbekannt der angeblich so weitverbreitete Inzestvorwurf gegenüber den Aleviten ist, zeigt die Reaktion der Drehbuchautorin und Regisseurin Angelina Maccarone: "Ich bin nicht auf dieses Vorurteil gestoßen und habe das dann für mich benutzt". Intensive Recherchen im alevitischen Milieu, die Zusammenarbeit mit türkischen Schauspielern - irgendwann hätte ihr doch mal jemand einen Tipp geben müssen, wie empfindlich gerade Aleviten auf den Inzestvorwurf reagieren.
3. Der Film richtet sich an ein deutsches Publikum, das von den in der Türkei grassierenden Vorurteilen keine Ahnung hat. Dargestellt wird ein fiktiver (!) Einzelfall. Ein Vater schwängert seine Tochter, die Tochter versucht zu entkommen und ist am Ende tot - nichts davon wird als normal oder repräsentativ für die alevitische Gemeinde dargestellt. Ein Verbrechen, ein Familiendrama - nichts, was den deutschen Tatortzuschauer zum Hass gegen die Aleviten aufstachelt. Der Vorwurf der "Volksverhetzung" ist lächerlich.
4. Seltsam nicht zuletzt die gemeinsamen Proteste von Sunniten und Aleviten. Wenn man fragt, wer den Aleviten das Stigma des Inzests aufgedrückt hat, dann heisst die Antwort nicht "die Deutschen" oder "die ARD" oder "der Tatort am 23.12.2007", sondern "sunnitische Türken". Mit denen sie jetzt gemeinsam protestieren. Über die Forderung nach einer offiziellen Entschuldigung der sunnitischen Türken für die reale Stigmatisierung und Verfolgung ist auch nichts bekannt...
Trotzdem wird den protestierenden Aleviten viel Verständnis entgegengebracht. Exemplarisch Lenz Jacobson in der Zeit:
Hier geht es nicht um leicht erregbare, orthodoxe Muslime. Die Gruppe, die hier demonstriert, vertritt die vielleicht liberalste Strömung des Islams. Aleviten sind die Lieblinge der Integrationspolitiker, sie sind aus europäischer Sicht sozusagen die Mustermuslime. Auf den Schildern der Kundgebung ist nichts zu lesen vom teuflischen Westen, kein drohendes oder feindseliges Wort ist zu hören. Stattdessen zitieren sie das Grundgesetz: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Und fast jeder der etlichen Redner auf der gut organisierten Kundgebung beginnt seinen Beitrag mit geradezu euphorischen Bekenntnissen zu Meinungs- Kunst- und Pressefreiheit. Hier kämpft nicht eine aggressive Religionsgruppierung gegen die Mehrheitsgesellschaft, hier kämpft eine weitgehend integrierte Bevölkerungsgruppe gegen Vorurteile.Man kann darüber streiten, ob Aleviten wirklich "Mustermuslime" sind - wie eine Moslem seine Religion lebt ist schließlich seine Sache. Dass positiv hervorgehoben wird, es seien keine "drohenden oder feindseligen Worte" gegen "den Westen" zu hören oder auf Plakaten zu lesen, ist bedenklich. Als wäre eine Grossdemonstration vor dem Kölner Dom -wohlgemerkt am Sonntagvormittag, während im Dom die Messe noch nicht beendet ist- nicht überzogen genug. Sollen wir wirklich dankbar sein, dass ein Tatort keine Hass- und Gewaltausbrüche nach sich zieht?
Die "weitgehend integrierte Bevölkerungsgruppe" kämpft nicht gegen Vorurteile (von deren Existenz die große Mehrheit der Deutschen vor einer Woche noch keine Ahnung hatte), sie schürt sie.